Reibungsflächen

Ich sitze in unserem Hotelzimmer in Monywa und versuche die richtigen Worte für unsere Erlebnisse in Indien zu finden. Es fällt mir unglaublich schwer. Das Land gab und gibt mir unzählige Rätsel auf.

In den Tagen bis zur nepalesischen Grenze glaubte ich mich in einem Endzeitszenario aus den 80er und 90er Jahren wiederzufinden, in dem vor den Folgen der Überbevölkerung und der Umweltverschmutzung gewarnt wurde. Von Dschungelbuchromantik weit und breit keine Spur. Dort wo noch vor ein paar Jahren Dschungel war sind nun Straßen, Häuser und landwirtschaftliche Nutzflächen. Der Boden ist nicht mit Laub sondern mit Müll bedeckt. Es rauschen keine Blätter, zwitschern keine Vögel, plätschern keine Bäche, sondern die Menschen lärmen, die Städte dröhnen und der Verkehr braust von morgens bis abends. Es gibt keinen Moment der Stille. Die Affen schwingen sich nicht von Ast zu Ast, sondern von Stromkabeln zu Fenstersimsen und Dachfirsten, und ernähren sich von den Abfällen der Menschen. Wir flüchten erstmal nach Nepal.

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Als wir nach sechs Wochen wieder die Grenze zu Indien passieren, bin ich vorbereitet und fest endschlossen: Ich will Indien die Chance geben, schön zu sein. Auf dem Weg nach Myanmar radeln wir durch Nordbengalen, Darjeeling, Sikkim, Westbengalen, Assam, Meghalaja und Manipur. Und tatsächlich lernen wir Indien von einer anderen Seite kennen. Wir erleben nahezu verkehrsfreie Tage durch Darjeeling und Sikkim. Unsere Umgebung ist grün und bewaldet. Es blühen Weihnachtssterne und Orchideen. Immer wieder haben wir Ausblicke auf den dritt höchsten Berg der Welt Kanchenzunga. Abends erreichen wir aufgeräumte Städte zum Teil mit Fußgängerzonen und Pätzen, die zum Verweilen einladen. In Westbengalen radeln wir auf einer Straße gesäumt von riesigen Bäumen vorbei an Teeplantagen. Wir erleben eine beschauliche Überfahrt auf dem Brahmaputra in Assam. Es gelingt uns in Meghalaja ungestört im Zelt zu übernachten und wir entdecken schöne Landschaften in Manipur.

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Doch was bleibt ist „the people factor“, wie ihn ein Radreisender durch Indien in seinem Blog so schön benennt. Für mich lässt er sich wie folgt zusammen fassen (und bitte verzeiht mir die mangelnde Differenzierung): Inder schauen nur, sie tun nichts.

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In unserem Fall bedeutet das, egal wo wir sind, egal was wir tun, wir werden von Leuten umringt und angeguckt. Und dabei zeigen sie meist keinerlei Reaktion. Wir sind für sie wie beste Fernsehunterhaltung.
Wir lächeln sie an. Keine Reaktion. Wir fragen nach einem Hotel. Keine Reaktion. Wir bitten um Hilfe. Keine Reaktion.
Allenfalls Kommentare wie: Stimmt, es ist sehr kalt heute. Oder: Das Fahrrad ist sicher sehr schwer zu tragen. Eben genauso wie wenn ich gespannt einen Film verfolge und mir dabei bewusst ist, dass keine Verhaltensweise von mir die Handlung in irgendeiner Weise beeinflussen kann.
Es dauert eine zeitlang bis ich das begreife und mit meinen Anliegen hartnäckiger an die Zuschauer heran trete. Meistens passiert dann trotzdem nichts. Denn die Person, die für die Lösung diese Problems zuständig wäre, ist gerade nicht da.

Ich führe dieses Verhalten auf die strenge hierarchische Struktur (Kastensystem) in der indischen Gesellschaft zurück.
Ein Beispiel: Wolfgang und ich wollen früh morgens ein Hotel verlassen. Wir packen unsere Räder und werden dabei von vier Hotelangestellten umringt und beobachtet. Wir sind fertig, sagen tschüss und gehen zum Tor. Das Tor ist verriegelt. Die Vier schauen zu, keiner reagiert. Erst renne ich los dann Wolfgang, um jemanden zu finden, der uns aufschließen kann. Die Vier schauen zu. Wir werden immer lauter und schließlich zeigt uns einer der Vier, wen wir wecken müssen, um gehen zu können. Es ist ein Junge der im Flur des Hotels schläft. Er steht auf, geht irgendwo hin, kommt mit dem Schlüssel zurück, sperrt uns auf, legt sich wieder hin. Der Punkt ist, jeder von den anderen Vier, die schon wach waren, hätte den Schlüssel holen können, aber es ist nicht deren Aufgabe.
Es sind Situationen wie diese, die mich immer wieder zur Weißglut treiben. Es gäbe so viel zu tun, aber niemand fühlt sich zuständig stattdessen werden Betelnuesse gekaut. Scheinbar alles wird einfach hingenommen wie es ist.Positiv gesehen haben Inder eine Engelsgeduld und für alles und jeden ist Platz. Negativ gesehen herrscht eine erschreckende Gleichgültigkeit unter ihnen.

Das geht nicht spurlos an mir vorüber. Ich reagiere empfindlicher was meine Bedürfnisse angeht und grober gegenüber meinen Mitmenschen. Niemals zuvor habe ich fremde Menschen angebrüllt, dass sie uns in Ruhe lassen sollen. Niemals zuvor habe ich Menschen wie Luft behandelt. Niemals zuvor habe ich mich wie eine Kolonialherrin benommen, die Haare in der Suppe vermutet bevor sie überhaupt Suppe bestellt hat. Ich beginn meinen Raum, meine Privatsphäre und mein Eigentum rücksichtsloser zu verteidigen.

So lernte ich auf der Reise durch Indien vor allem mich selbst von einer anderen Seite kennen. Die Tage verliefen im fliegenden Wechsel zwischen guten und schlechten Begegnungen.
Immer wieder musste ich mich zusammenreißen, um nicht ungerecht zu jemandem zu sein, der es gut mit uns meinte. Wie die Sikhs bei denen sich Wolfgang drei Tage auskurierte. Amit und Neeta, die uns zum Abendessen einluden. Die Polizeistation die uns bekochte. Der Mann in dessen Garten wir unsere Sachen trocknen durften. Die Mitfahrgelegenheiten nach Silchar und Moreh. Bikram der uns die lästige Wartezeit in Jiribam versüßte…

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Jeder Tag verlief glücklich und verstörend zugleich. Es war eine sehr intensive und aufreibende Zeit in Indien. Sie lässt sich nicht rund abschließen. Es bleiben Ecken und Kanten auf beiden Seiten.

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7 thoughts on “Reibungsflächen

  1. Ich verstehe dich so gut, Cora! Wir waren zwar nur 3 Wochen in Indien und hatten zum Glück einen ruhigen Rückzugsort bei Freunden in Delhi, aber während unserer Reisen durch Rajasthan und Uttar Pradesh bin ich am Schluss auch an meine Grenze gekommen und war grob und laut und (auch physisch) aggressiv – was ich ja sonst eigentlich nicht bin?! Aber die Menschen waren einfach nur noch anstrengend, nervig und viel zu nah.
    Ich kann mir kaum vorstellen, wie es für euch auf Rädern und immer mitten drin gewesen sein muss…

    Trotzdem hat mich Indien auch total fasziniert, auch aus den Gründen, die Wolfgang in seinem Post erwähnt hat. Ich möchte auf jeden Fall auch wieder dorthin, allerdings in den Süden. Dort soll es ja anders sein, nicht nur landschaftlich und klimatisch, sondern auch was die Menschen betrifft. Jemand meinte mal, das läge daran, dass dort die Mehrheit der Bevölkerung Christen sind und nicht Hindus, die sich eben so ergeben in ihr Schicksal fügen. Wir werden sehen, wenn es soweit ist.

    Euch auf jeden Fall erstmal ruhige Zeiten!

    Liebe Grüße
    Anke

    1. Liebe Anke, ich hatte auch das Gefühl, dass die Religion stark beeinflusst, wie sich die Menschen in den einzelnen Regionen verhalten. In der Himalaya Region Nepals leben vor allem Exiltibeter also Buddhisten. Sie waren sehr gastfreundlich, kreativ und erfinderisch. Sie haben die Einstellung aus wenig viel zu machen und alle Ressourcen zu nutzen, die sie haben. Um Darjeeling herum stehen viele christliche Kirchen. Die Menschen dort nahmen auf sehr freundliche Art mit uns Kontakt auf. Und hier in Myanmar kamen wir bei sehr schlechtem Wetter in ein christliches Dorf. Wir wurden so selbstverständlich aufgenommen wie Freunde oder Familienangehörige und uns wurde klar, dass für sie Nächstenliebe nicht nur ein Wort ist.

  2. Liebe Cora,

    Du schilderst Deine Eindrücke so anschaulich, dass ich glaube Dich gut verstehen zu können.
    Positiv an all dem ist, dass Du Dir selbst wieder ein Stückchen näher gekommen bist. Ich glaub auch man kann für sich genauer klären, was und wie man etwas will, was man toleriert und wo die Grenze ist—auch wenn man scheinbar keinen Einfluß hat.
    Ich wünsch Dir ein offenes Herz und weiterhin viele bereichernde Begegnungen
    herzliche Grüße
    Mama

  3. Liebste Cora,
    vielen Dank für deine offenen Worte und deine unglaubliche Nähe, die du durch dein Geschriebenes zu dir transportierst.
    Deine Gedanken bringen mich auch zum Nachdenken. Ich denke schon länger darüber nach, Indien einmal zu besuchen. Irgendwie habe ich immer eine gewisse Abneigung, in das Land zu reisen. Nun, durch deine Erzählungen bestärkt es mich, bisher noch nicht nach Indien gereist zu sein. Welche Fragen ich mir dennoch stelle und du sie dir bestimmt bereits des Öfteren gestellt hast: Was hat das alles mit mir zu tun, dass ich Aggressivität spüre und meine Akzeptanz Menschen gegenüber aussetzt, wenn ich solch Verhalten durch deine Erzählungen erlebe? Gehe ich von mir aus, von meiner sozialen Herkunft, von der ich so geprägt bin? Bin ich nur vermeintlich tolerant? Vll. erwarte ich von meinen Mitmenschen genau das, was ich selbst in bestimmten Situationen tun würde? Diesen Anspruch aber niemand in der Welt erfüllen kann und soll? Vll. hat unser Verhalten oft gar nichts mit unserem Gegenüber zu tun, sondern mit uns selbst?
    Das alles kommt mir hoch… Ich versuche immer wieder zu entspannen, inne zu halten und zu amten….
    Liebe Cora, ich drücke dich in die Ferne ! Halt die Ohren steif. Für Deine Erfahrungen beneide ich dich… Auch, wenn es oft anstrengende sind 😉
    Hab dich gern !!

    1. Liebe Magda, musste in Indien oft an dich denke und schmunzeln, weil ich mir vorstellte wie du in manchen Situationen dein entnervtes, augenrollendes, laut aufstöhnendes „mein Gott!“ von dir gibst. 🙂

      1. 😀 das kann gut sein 🙂 schön, dass ich dich zum schmunzeln gebracht habe 😉

  4. danke für deine karte cora!! kam aus darjeling
    liebe grüße aus einer eurer ersten Etappe, wo noch alles „gewöhnlich“ war 😉

    leo

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