Lückenfüller

Wir kommen aus der erfrischenden Kühle von Bischkek und landen in der stickigen Schwüle Delhis. Um uns sofort an den Trubel zu gewöhnen, entscheiden wir vom Flughafen zum Warmshower Gastgeber zu radeln. Also Helm aufgesetzt, alles auf links gedreht und los geht’s. Nach wenigen Metern bin ich schweiß gebadet vor Angst. Um mich herum braust endloser Verkehr und ertönt pausenloses Hupen. Es dauert eine Weile bis ich begreife, dass ich mit rücksichtsvollem, umsichtigen Fahren nicht weiterkomme. Ich muss jede Lücke nutzen, die sich bietet und zwar ohne zu schauen, ob sie noch jemand entdeckt hat, um weiter zu kommen. So geht es voran kreuz und quer mit dem Strom.

Die nächsten Tage versuchen wir Delhi zu erkunden. Die Stadt hat zweifellos alles. Die Frage ist nur wo? Sie ist so voll gestopft mit Menschen, Fahrzeugen, Geschäften, Schildern, dass wir Stunden brauchen, um nur einen Joghurt zu kaufen. Ich versuche mich in der Masse treiben zu lassen. Um mich herum passiert so viel, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Ich bin schockiert und fasziniert zu gleich. Warum dreht hier niemand durch? Jeder scheint nur auf sein eigenes Vorankommen zu achten. Jeder findet für sich eine  Lücke. Ein Mann robbt sitzend durch die Menge, ein Anderer liegt ausgestreckt auf dem Gehsteig. Familien leben unter Brücken und auf Verkehrsinseln. Kühe, Ziegen, Affen, Streifenhörnchen irgendwie dazwischen. Jeder geht irgendwelchen Geschäften nach. Ein Hocker, ein Spiegel macht einen Friseur. Ein Feuer, ein Topf macht einen Koch. Eine Bürste, ein Lappen macht einen Schuhputzer. Ein Mann, ein Stäbchen macht einen professionellen Ohrenputzer.

Koch
Koch

Ich muss an Wimmelbücher für Kinder denken. Die Aufgabe lautet: Finde die Reisende aus Deutschland, die aus dem Staunen nicht mehr heraus kommt. Aber sie ist schon im Gewühle verschwunden.

Oder ist sie das? Dort drüben. Umgeben von einer Menschentraube, die ihr zusieht und lautstark kommentiert wie sie Ingwer kauft.

Oder dort? Sie steht vor einem Hotel und sieht fassungslos zu wie der Neffe des Hotelbesitzers sich eben mal ihr Fahrrad geborgt hat, um eine Spritztour zu machen.

Oder hier? In einer Garküche sitzend, sehen ihr einige Augenpaare interessiert beim Essen zu.

Nein, da ist sie! Ich habe sie entdeckt! Sie steht am Straßenrand und sucht verzweifelt zwischen Autos, Tuktuks, Rikshas, Fußgängern, Lastern, Viehkarren, und Fahrradfahrern nach ihrer Lücke, um auf die andere Seite zu kommen. Schließlich gibt sie auf und geht einfach los. Ohne nach rechts oder links zu schauen, findet sie mit blindem Vertrauen ihre Lücke.

One thought on “Lückenfüller

  1. Liebe Cora,
    ich weiß genau, wie du dich fühlst, war ja selbst vor drei Jahren in „Dili“. Ein sehr faszinierendes und zugleich frustrierendes Land, das ich zum einen froh war wieder zu verlassen, zum anderen aber unbedingt wieder besuchen möchte – incredible India, halt!
    Ganz liebe Grüße aus dem adventlichen Deutschland!
    Anke

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